In dem Fall, dass der Komponist nicht mehr länger nur jemand ist, der seine Ideen schriftlich fixiert und sie dann zur Vermittlung an das Publikum in die Hände von Interpreten legt, sondern auch die Realisation seiner Ideen essentieller Bestandteil seines kompositorischen Prozesses sind, verändert sich natürlich auch die Position des Interpreten im Gesamtgefüge. So beschreibt Barbara Barthelmes in ihrem Beitrag Der Komponist als Ausführender und der Interpret als Komponist. Zur Ästhetik der Musikperformance(27) die Rolle des Interpreten nicht mehr länger als stummen Diener, der die Ideen anderer verwirklicht, sondern als eine die sich vom Reproduzenten zum Produzenten entwickelt.
Er [der Interpret] hat sich von der Rolle eines reinen Reproduzenten emanzipiert und überschreitet die ohnehin fließenden Grenzen zum Lager der Produzenten. Der komponierende Musiker oder der Musiker-Komponist tritt in der experimentellen Musik nach 1945 in zunehmenden Maße gleich- berechtigt neben die traditionelle Aufführungspraxis, in der das Werk eines Komponisten nur über einen Interpreten – in der Regel einen Berufsmusiker – als vermittelnde Instanz sein Publikum erreicht.(28)
Auch wenn weder Kagel noch später andere Komponisten, wie Georges Aperghis, Giorgio Battistelli oder Heiner Goebbels sich selbst auf die Bühne stellen, so arbeiten sie doch immer mit besonderen Interpreten zusammen mit denen sie zum Teil die Werke in enger Zusammenarbeit realisieren.
Wenn man den produzierenden Interpreten als „Musikperformer“ bezeichnen möchte, trägt dieser entscheidend dazu bei, dass das gesamte Kunstwerk erst im Moment der Aufführung einmalig realisiert wird. Dies unterscheidet ihn vom reproduzierenden Interpreten, dessen Realisation nur auf der sekundären Ebene der Interpretation unwiederholbar ist. Dem Zufolge verlagert sich der Werkbegriff weg von der Partitur hin zur Aufführung selbst. Ein Umstand, der, wie Barthelmes weiter ausführt, ein wesentliches Umdenken in der Ideologie des Materialbegriffs erfordert:
Zwar kann die Ästhetik unmittelbarer Präsenz des Kunstwerks bis zu einem gewissen Grad für jede Musik – wie übrigens auch für jede Kunstgattung – geltend gemacht werden. Bekanntlich gilt jedoch in der Ästhetik der europäischen Kunstmusik bzw. der Ideologie des Materialbegriffs der Text, das heißt die Partitur, als das eigentliche Werk.(29)
Für das Theater hat Max Herrmann, einer der ersten Theaterwissenschaftler, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts einen Wechsel des Werkbegriffs zum Ereignisbegriff gefordert. So rekonstruiert Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen(30) Hermanns Aufführungsbegriff:
Er (Hermann) geht mit diesem Begriff [des Performativen] konform, insofern er Aufführung nicht als Repräsentation oder Ausdruck von etwas Vorgängigem, Gegebenen bestimmt, sondern sie als eine genuine Konstitutionsleistung begreift: Die Aufführung selbst sowie ihre spezifische Materialität werden im Prozeß des Aufführens von den Handlungen aller Beteiligten erst hervorgebracht.(31)
Ähnliches gilt meiner Meinung nach in vielen Fällen besonders bei Aufführungen elektronischer und elektroakustischer Musik.
Bei elektronischer Musik stellt sich die Frage des Interpreten auf besondere Art, da es sich um akustische Kunst für bzw. mit Lautsprechern handelt. Akusmatische Musik, Musique concrète, Tape Music und Computermusik haben gemeinsam, dass der Interpret auf der Bühne meist fehlt. Zu Beginn der elektronischen Musik waren hier Interpret und Komponist oftmals verschiedene Personen. Im Studio haben die Komponisten mit Tonmeistern zusammengearbeitet, die dann ihre Werke realisiert haben (sozusagen als Interpreten). Mittlerweile hat sich dies ziemlich verändert, denn durch neue Technologien ist der Komponist oftmals in einer Art Doppelrolle als Composer-Performer. Folkmar Hein beschreibt in seinem Beitrag Brauchen wir Interpreten für elektroakustische Musik? diese Veränderungen aus Sicht eines Tonmeisters, der um seinen Job fürchtet, wenn im Zuge der Digitalisierung die Komponisten alles „selber machen können“(32).
Thomas Kessler stellt in seinem Beitrag Der unsichtbare Musiker? die These auf, dass „das Idealbild eines Musikers, bei dem Komponist, Interpret und Instrumentenbauer in einer Person vereint sind“ durch die heutige Spezialisierung und Komplexität nicht mehr vorhanden ist(33). Dem gegenüber sehe ich allerdings gerade in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren vermehrt Ansätze junger Komponisten, die wieder sehr viel in den verschiedenen Disziplinen experimentieren, sodass man ebenso behaupten kann, dass dieses Idealbild in letzter Zeit wieder an Bedeutung gewonnen hat. Durch die einfache Gestaltung von individuellen Benutzeroberflächen, wie zum Beispiel in Max/Msp, den Einsatz von verschiedensten Kontrollern und leicht handhabbaren Sensorsystemen haben Komponisten wie Musiker eine Vielzahl von Möglichkeiten sich ihre Interfaces zusammenzustellen ohne vorheriges Studium der Informatik oder Elektrotechnik.
Der Komponist Marko Ciciliani unterscheidet in seinem Aufsatz Towards an Aesthetic of Electronic-Music Performance Practise zwei grundlegende Extremkonstellationen der Aufführungspraxis, die er als „centripedal-model“ beziehungsweise „centrifugal-model“ beschreibt(34). Das zentripetale Modell zeichnet sich demnach durch die Sichtbarkeit des Performers aus, dessen Bewegungen in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Gehörten stehen und die Klangquellen kommen offensichtlich aus der Richtung des Performers. Beispielhaft für dieses Modell sind alle Konzerte mit akustischen Instrumenten und einer traditionellen Raumaufteilung. Das zentrifugale Modell dagegen steht für die Aufhebung dieser vermeintlichen Einheit. Der Performer kontrolliert und steuert das Klanggeschehen im Hintergrund, die Klangquellen sind im Raum verteilt und Bewegung und Klang stehen in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang. Als Beispiel führt Ciciliani hier akusmatische Musik an und folgert aus einer historischen Perspektive:
It is interesting that acousmatic music refers to the pythagorean tradtion which understand music as part of a cosmic order and therefore not as an expression of human affect.(35)
Anordnung der Parameter bei Ciciliani (36)
Aus dieser groben Einteilung leitet Ciciliani eine Reihe von Parametern ab, aus denen er ein Modell zur Beschreibung der Ästhetik der Aufführungspraxis elektronischer Musik konstruiert.
Aus dem zentripetalen Modell sind die Parameter Body (Steht tatsächlich jemand auf der Bühne?), presence (Ist die Anwesenheit des Performers essentiell notwendig als Teil der Aufführung?), embodiment (Gibt es einen engen Zusammenhang zwischen den Bewegungen des Performers und dem akustischen Erlebnis?) und transparency (Wird aktiv daran gearbeitet die Performance so zu gestalten, dass Handlungen und klangliche Ergebnisse in einen Zusammenhang zueinander zu bringen sind?) abgeleitet. Aus dem zentrifugalen Modell abgeleitet sind die Parameter space (Sind die Klangquellen zentral von der Bühne ausgehend oder dezentral im Raum verteilt?), Mediatization (Gibt es Klang, der in keinem Zusammenhang mit dem Performer steht und vorproduziert sein könnte?) und Camouflage (Wird der Zuhörer absichtlich daran gehindert die Handlungen des Performers zu sehen?). Daneben führt Ciciliani noch einen weiteren Parameter ein, den Einsatz von Visualisierungen; dies können sowohl Projektionen als auch sichtbare Soundobjekte sein. Dieses Modell werde ich im Folgenden beispielhaft auf eines meiner eigenen Werke anwenden.
Inwiefern szenographische Elemente, also Licht, Bühnenbild, Kostüme die Ästhetik ebenso beeinflussen, wird hier allerdings nicht näher besprochen. Ebenso beschränkt sich Ciciliani nur auf Aufführungen mit einem Performer auf der Bühne.
Um einen größeren Zusammenhang zwischen Performern und Klang herzustellen, haben sich immer wieder Ensembles und Komponisten dazu entschlossen, jedem Performer einen eigenen Lautsprecher zur Seite zu stellen. Cat Hope, Leiterin des Decibel Ensembles beschreibt in ihrem Aufsatz New Possibilities for Electroacoustic Music Performance(37) die Herangehensweise ihres Ensembles wie folgt:
The personification of electronic instruments such as laptops, speakers and tape players with individual performers enables them to be more musically involved in the chamber music performance experience. Connecting each performer directly to their own sound output also asists in this relationship, handing the responsibility of sound quality directly and volume to the performer, something acoustic instrument performance have controlled for years. By avoiding the default to stereo public amplification and external operators for sound Decibel create performers that are characteristically personal and musical.(38)
Auf diese Weise sind der Ausgangspunkt des Klangs und der Performer für das Publikum zwar eher als Einheit wahrzunehmen, ein mehrkanaliger Raumklang, der die Besucher umschließt ist in dieser Konstellation aber nicht möglich.
Mari Kimura beschreibt die Herausforderungen der Aufführung elektroakustischer Musik aus Sicht einer Interpretin. Ihr Aufsatz Performance Practise in Computer Music(39) ist mittlerweile zwar bereits zwanzig Jahre alt, in vielen Punkten aber dennoch äußerst aktuell. So führt sie einige grundlegende Schwierigkeiten beziehungsweise Besonderheiten auf, die für die Arbeit mit Interpreten akustischer Instrumente besonders im Zusammenspiel mit vorproduziertem Tapes wichtig sind.
In einem rein akustischen Konzert kann der ausführende Musiker den Klang des Werkes am jeweiligen Aufführungsort sehr gut kontrollieren. Dies wird durch den Einsatz von Elektronik wesentlich schwerer. Durch das Ändern der eigenen Spielweise allein, zum Beispiel mehr oder weniger vibrato, hat der Interpret noch lange keine Kontrolle über den Gesamtklang im Raum, in dem sich sein Instrumentenklang mit dem Klangmaterial mischt, das über die Lautsprecher wiedergegeben wird. Wie bereits beschrieben (siehe 2.2. Der Einsatz von Technik) sind die Klänge des Werks, die über Lautsprecher wiedergegeben werden, für den Zuhörer oftmals nicht immer nachvollziehbar, da der visuelle Bezugspunkt fehlt. Dies ist zum Teil auch ein Problem für die Interpreten, da eine Interaktion mit dem Lautsprecher nicht möglich ist. Außerdem ist bei Stücken mit Zuspiel der Zuspielpart bereits vorproduziert und insofern starr. Der Interpret muss sich also in Tempo und Dynamik dem Zuspiel „unterwerfen”(40).
Die neue Rolle, die Interpreten elektronischer sowie elektroakustisches Musik als „Musikperformer“ oftmals zukommt, führt dazu, dass sich der Werkbegriff weg von der Partitur hin zur Aufführung selbst verlagert. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Einzug neuer Technologien, sowohl in die Aufführungsorte, als auch in die konzeptuelle und kompositorische Arbeit der Komponisten. Dies führt meiner Meinung nach zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer bis dato unerreichten Fülle an Möglichkeiten sowie künstlerischen Herausforderungen.
Im Folgenden werde ich anhand einiger Beispiele aus meiner eigenen Arbeit verschiedene Konzepte und Ideen im Kontext der Aufführungspraxis beleuchten.
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(27) Improvisation – Performance – Szene, Hrsg. Barbara Barthelmes und Johannes Fritsch, „Der Komponist als Ausführender und der Interpret als Komponist. Zur Ästhetik der Musikperformance“ von Barbara Barthelmes, Schott Musik International, Mainz 1997;
(28) Ebda., S. 9;
(29) Ebda., S. 13;
(30) Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004;
(31) Ebda. S. 54f.;
(32) Folkmar Hein: Brauchen wir Interpreten für elektroakustische Musik? In: Elektroakustische Musik, Hrsg.: Elena Ungeheuer, Laaber-Verlag, Laaber 2002; S. 165 ff.;
(33) Thomas Kessler: Der unsichtbare Musiker? In: Elektroakustische Musik, Hrsg.: Elena Ungeheuer, Laaber-Verlag, Laaber 2002; S. 172ff.;
(34) Marko Ciciliani: Towards an Aesthetic of Electronic-Music Performance Practice, 2014; PDF heruntergeladen am 16.12.2014 [http://markociciliani.de/media/texts/Ciciliani_Aesthetic%20EM%20Performance%20Practice.pdf]
(35) Ebda. S. 2;
(36) Grafik: http://markociciliani.de/media/texts/Ciciliani_Aesthetic%20EM%20Performance%20Practice.pdf
(37) Hope, Cate: New possibilities for electroacoustic music performance. Paper presented at the XVIII CIM – Colloquio di Informatica Musicale, Torino, Italy. 2011. PDF heruntergeladen am 18.12.2014 [http://ro.ecu.edu.au/ecuworks2011/424/]
(38)Ebda. 30f.;
(39) Kimura, Mari: Performance Practise in Computer Music. Computer Music Journal 19:1, 1995;
(40) Ebda. S 71;